Wildes Denken: Mythos und Rationalität im Vergleich

Moderne Gesellschaften sehen sich mit grundlegenden Spannungsfeldern konfrontiert: dem Anspruch rationaler Welterklärung, der Macht ideologischer Denkmuster und der Verankerung des Geistes im Körper. Diese Themenfelder spiegeln sich in drei theoretischen Konzepten wider, die auf den ersten Blick disparat erscheinen – Claude Lévi-Strauss’ Konzept des “wilden Denkens”, das Modell eines “ideologischen Gehirns” aus Neuro- und Kognitionswissenschaften und N. Katherine Hayles’ Embodiment-Theorie. Eine vergleichende Betrachtung zeigt jedoch, dass alle drei Ansätze die Grenzen klassisch-moderner Vorstellungen vom Menschen ausloten. Besonders deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit Demenz als Phänomen: Demenz bedeutet einen kognitiven Wandel oder Rückschritt und stellt damit moderne Ideen von Vernunft, Identität, Erinnerung, Körperlichkeit und sozialer Verortung infrage. Dieser Essay unternimmt eine tiefgehende Synthese der genannten Theoriemodelle. Ziel ist es, aus transkultureller und interdisziplinärer Perspektive zu beleuchten, wie wildes Denken, ideologisches Gehirn und Embodiment einander ergänzen oder herausfordern und gemeinsam neue Einsichten über die konflikthaften Selbstverständlichkeiten der Moderne – insbesondere im Umgang mit Demenz – ermöglichen.

Wildes Denken: Mythos und Rationalität im Vergleich

Claude Lévi-Strauss prägte mit La Pensée Sauvage (dt. Das wilde Denken, 1962) die Idee, dass es neben der wissenschaftlich-analytischen Vernunft eine ebenso legitime Form des Denkens gibt, die vor allem in indigenen und vor-modernen Kulturen ausgeprägt ist. Dieses „wilde Denken“ zeichnet sich durch eine ganzheitliche, naturverbundene Weltsicht aus und wird von Lévi-Strauss ausdrücklich als gleichberechtigt neben dem westlich-wissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit beschrieben . Wildes Denken überschreitet die rein materielle Erklärung und erweitert so das begrenzte rationale Weltbild . Wichtig ist, dass Lévi-Strauss das „Wilde“ nicht abwertend meint: Es handelt sich nicht um „Denken der Wilden“ im Sinne primitiver Völker, sondern um ein Denken im wilden Zustand, das grundsätzlich im Menschen angelegt ist – ähnlich wie eine wildwachsende Pflanze zur kultivierten Variante . Dieses mythisch-analoge Denken operiert mit konkreten Sinneseindrücken, Metaphern und symbolischen Analogien, anstatt mit formaler Logik allein

Lévi-Strauss betont zudem, dass wildes und domestiziertes (wissenschaftliches) Denken keine strikt getrennten Sphären sind. Vielmehr koexistieren und durchdringen sie einander wechselseitig – selbst in modernen Gesellschaften . So gibt es “Zonen, in denen das wilde Denken […] weiterhin gedeiht” , etwa in der Kunst, in der Religion und in unregulierten

Bereichen des sozialen Lebens, die nicht vollständig von rationalistischen Denkweisen „gerodet“ wurden . Damit verweist Lévi-Strauss darauf, dass selbst die moderne Zivilisation auf Reservate alternativer Denkformen zurückgreift, um die beschränkte Perspektive streng rationaler Vernunft zu ergänzen.

Aus dieser Perspektive liefert wildes Denken einen kritischen Spiegel für zentrale Ideale der Moderne. Die Vorstellung unbeschränkter Rationalität – also dass der Mensch die Welt allein durch abstrakte Vernunft vollständig erfassen könne – wird relativiert. Stattdessen wird deutlich, dass mythisches und bildhaftes Denken auch im modernen Alltag fortlebt (etwa in Traditionen, Geschichten, kollektiven Ritualen) und einen wichtigen Zugang zu Sinn und Identität bietet. Im Zusammenhang mit Demenz gewinnt dieser Punkt besondere Bedeutung: Wenn kognitive Fähigkeiten nachlassen, treten häufig andere Formen des Weltbezugs in den Vordergrund – sinnliche Erfahrungen, emotionale Resonanz, routinisierte Handlungen. Diese könnten als eine Art “wildes Denken” im Individuum verstanden werden, als Rückgriff auf unmittelbar-konkrete Weltorientierungen, die jenseits bewusster Logik liegen. Demenz stellt die Vorrangstellung rationaler Kognition infrage und legt offen, wie sehr Menschen auch auf nicht-rationalen Sinnstiftungen angewiesen sind. Hier liefert Lévi-Strauss’ Konzept einen Rahmen, dementielle Erfahrungen nicht vorschnell als „bloßes Defizit“ zu betrachten, sondern als Teil eines menschlichen Grundpotentials des Denkens, das in modernen Gesellschaften oft an den Rand gedrängt wird.

Das ideologische Gehirn: Biologie, Kultur und politische Kognition

Während Lévi-Strauss von universalen Denkstrukturen ausgeht, betont das Konzept des “ideologischen Gehirns” die neurobiologische und kognitive Variabilität menschlichen Denkens unter dem Einfluss von Kultur und Ideologie. Neuere Forschungen in Neurowissenschaft und Kognitionspsychologie zeigen, dass politische und moralische Überzeugungen tief in unseren kognitiven Prozessen und Hirnstrukturen verankert sind . Mit anderen Worten: Ideologien “entstehen in unseren Körpern” – in neuronalen Mustern, hormonellen Reaktionen, verschalteten Denkgewohnheiten – und ihre Auswirkungen lassen sich körperlich sichtbar machen . Politische Einstellungen und moralische Urteile sind kein oberflächliches Beiwerk, das man beliebig ablegen könnte, sondern sie prägen uns möglicherweise “bis in unsere Zellen hinein” .

Eine führende Vertreterin dieser Forschung ist die Neurowissenschaftlerin Leor Zmigrod, die mit Kolleg*innen kognitive Tests und Gehirnscans einsetzt, um zu verstehen, warum manche Menschen zu extremistischen Ideologien neigen . Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass etwa kognitive Rigidität oder sensorische Verarbeitungsmuster mit ideologischer Dogmatismus korrelieren . Allgemeiner formuliert, zeichnet sich ein neues Bild ab: Das Gehirn ist kein abstraktes Rechnerorgan, das von Kontext und Kultur unberührt bleibt, sondern ein Anpassungsorgan, das sich an soziale Narrative, kulturelle Werte und Gruppenloyalitäten mitschult. So zeigen Studien beispielsweise unterschiedliche Hirnaktivitäten bei der Verarbeitung moralischer Dilemmata abhängig von politischen

Grundüberzeugungen . Auch Sprachbilder und Frames (etwa in der politischen Kommunikation) können unbewusst die neuronalen Bahnungen beeinflussen, mit denen wir Informationen interpretieren .

Dieses Konzept eines ideologisch geprägten Gehirns adressiert ein zentrales Konfliktfeld der Moderne: die Illusion vom rein rationalen, autonomen Individuum in politischen und moralischen Entscheidungen. Anstelle des Homo oeconomicus, der unabhängig von Vorprägungen optimale Entscheidungen trifft, tritt hier das Bild eines Menschen, dessen Wahrnehmung, Erinnerung und Urteil von identitätsstiftenden Narrativen geprägt sind. Moderne Demokratien ringen mit Polarisierung und “postfaktischen” Tendenzen – Phänomene, die durch die neurokognitive Verankerung von Weltbildern verständlicher werden. Wenn Argumente an der jeweiligen Moralfilterblase abprallen, liegt das auch daran, dass Ideologie körperlich gespürt und neuronal verankert wird (z.B. als Angstreaktion, als Belohnungssystem-Aktivierung bei Bestätigung eigener Ansichten usw.).

In Bezug auf Demenz wirft das ideologische Gehirn zwei Fragen auf. Erstens: Was geschieht mit ideologischen Denkmustern, wenn das Gehirn degenerative Veränderungen durchläuft? Frühere Persönlichkeitseigenschaften können sich verändern – so sind Fälle dokumentiert, in denen vormals zurückhaltende Menschen mit Frontotemporaler Demenz enthemmte oder apathische Züge zeigen. Dies ließe sich dahingehend interpretieren, dass die neuronalen Netzwerke, die für Selbstkontrolle oder für moralisch-ideologische Konzepte zuständig waren, beeinträchtigt werden. Interessanterweise bleiben manche grundlegende Wertorientierungen aber oft bestehen, quasi eingebrannt in tiefe Schichten des Selbst. So kann es vorkommen, dass ein demenzerkrankter Mensch weiterhin emotional auf für ihn bedeutsame Symbole oder Lieder reagiert, die Teil seiner politischen oder religiösen Identität waren, auch wenn er Fakten nicht mehr erinnert. Zweitens – und breiter gefasst – zeigt der ideologische Gehirn-Ansatz, dass unsere Wahrnehmung von Demenz selbst ideologisch gefärbt ist. In einer Kultur, die auf Leistungsfähigkeit, Gedächtnis und individueller Produktivität aufbaut, werden Menschen mit Demenz leicht als “leer” oder “nicht mehr sie selbst” wahrgenommen – eine Sichtweise, die von dem Narrativ geprägt ist, ein Mensch sei primär durch seine kognitive Autonomie definiert. Dieses Narrativ kann als ideologische Vorstellung des modernen Gehirns begriffen werden, das Demenzkranke unbewusst abwertet. Neurowissenschaftlich-kulturelle Kritik kann hier ansetzen und fragen, ob unsere Gesellschaft andere narrative Rahmen finden muss, um Menschen mit Demenz zu verstehen – Rahmen, die Mitgefühl, Würde und Zugehörigkeit in den Vordergrund stellen anstatt reiner Leistungsfähigkeit.

Embodiment nach Hayles: Der verkörperte Geist im Informationszeitalter

Die dritte Perspektive, N. Katherine Hayles’ Embodiment-Theorie, verschiebt den Fokus weg von inhaltlichen Denkmustern hin zur Grundlage aller Kognition: der Einbettung des Geistes in Körper und materieller Welt. Hayles, eine Literatur- und Medientheoretikerin, wurde durch ihr Werk How We Became Posthuman (1999) bekannt, in dem sie die

Entkörperlichungstendenzen digitaler Technokulturen kritisiert. Sie zeigt historisch auf, „wie die Information ihren Körper verlor“ – sprich, wie in Kybernetik und Informatik die Vorstellung aufkam, Bewusstsein sei letztlich ein übertragbares Informationsmuster, unabhängig vom spezifischen Körper . Dem setzt Hayles die Idee eines “embodied posthumanism” entgegen, das den Körper zurück ins Zentrum rückt. Sie fordert, den verführerischen Gleichsetzungen Mensch = disembodied information entschieden entgegenzutreten . Denn diese Gleichsetzung, so Hayles, setzt die Tradition fort, den materiellen Körper (und insbesondere auch weibliche Körperlichkeit, wie feministische Kritikerinnen anmerken) abzuwerten .

In Hayles’ Theorie wird zwischen “body” und “embodiment” unterschieden: Der Körper als physische Form ist zwar Voraussetzung, aber Embodiment (Verkörperung) bezeichnet die gelebte Erfahrung dieses Körpers im Kontext – mit all seinen individuellen Variationen, Sinneseindrücken und Interaktionen . Während „der Körper“ als abstraktes Konzept häufig normativ und statisch gedacht wird, ist Embodiment dynamisch, konkret und vielfältig („zugleich übervoll und unzureichend in seinen unendlichen Variationen und Abweichungen“ ). Hayles lenkt unseren Blick darauf, dass Kognition immer an einen spezifischen Körper und dessen Umweltbeziehungen gebunden ist. Information kann nicht ohne Weiteres von einem Medium ins andere “hochgeladen” werden, ohne dass sich ihr Wesen verändert – denn Bedeutung entsteht erst durch die Wechselwirkung von Mustern mit einem verkörperten Bewusstsein. Folgerichtig kritisiert Hayles die moderne Vorstellung des Menschen als autonomes, unabhängiges Subjekt . Sie zeigt, dass wir vielmehr hybride Wesen sind: biologische Organismen, die mit Technologien interagieren, und deren Denken aus einem Geflecht von neuronalen, körperlichen und umweltlichen Faktoren entsteht . Diese Sichtweise passt in eine Zeit, in der Künstliche Intelligenz und Mensch immer enger koexistieren – sie warnt jedoch davor, den Menschen in dieser Konstellation als reines Informationswesen zu missverstehen.

Embodiment-Theorie adressiert damit einen weiteren zentralen Konfliktpunkt der Moderne: den Dualismus von Körper und Geist. Insbesondere westliche philosophische Traditionen (Descartes’ Cogito ergo sum als Extremform) haben den denkenden Verstand vom “bloßen” Körper getrennt. Moderne Technikvisionen – von der Optimierung des Körpers durch Biomedizin bis hin zur Science-Fiction-Idee des Mind Uploading – tragen diese Trennung fort. Hayles’ Ansatz hält dagegen: Geistige Prozesse sind immer schon leiblich vermittelt. Dies deckt sich auch mit Erkenntnissen der embodiment-Forschung in Kognitionswissenschaft und Neurophilosophie: So argumentiert der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs, dass Bewusstsein “nicht ein reines Produkt des Gehirns” ist, “sondern vielmehr eine umfassende Aktivität des gesamten Organismus in Beziehung zu seiner Umwelt” . Nur ein Gehirn, das in einen lebendigen Körper mit Sinnes- und Motoriksystem eingebettet ist, kann überhaupt ein menschliches Bewusstsein hervorbringen . Kognitive Fähigkeiten entstehen demnach aus dem Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Umgebung – eine Aussage, die die strikte Grenze zwischen biologischer und kultureller Erklärung weiter auflöst.

Bezieht man diese Sichtweise auf Demenz, ergeben sich wichtige Implikationen. Anstatt Demenz nur als neuronalen Zelluntergang zu sehen, rückt die Embodiment-Perspektive die verbleibenden Ressourcen des lebendigen Körpers in den Vordergrund. Empirisch zeigt sich

nämlich, dass trotz fortschreitendem Verlust des expliziten Gedächtnisses “große Bereiche des impliziten Gedächtnisses selbst in späten Stadien intakt bleiben” . Das bedeutet, Körpergedächtnis und prozedurale Fähigkeiten können oft noch abgerufen oder sogar neu erworben werden, wenn auch ohne bewusstes Erinnern daran . So behalten etwa viele an Alzheimer erkrankte Musiker*innen ihre musikalischen Fertigkeiten sehr lange und können neue Stücke lernen, obwohl sie sich nicht daran erinnern im üblichen Sinn . Auch Gewohnheitshandlungen – vom Umgang mit Besteck bis zum Tanzschritt – sind Teil dieses verkörperten Wissens. Was man “einmal im Leib” hat, bleibt in gewissem Umfang zugänglich.

Die Konsequenz daraus: Der erkrankte Mensch ist weiterhin da, als empfindendes, verkörpertes Selbst, auch wenn autobiographische Erinnerungen erlöschen. Der Philosoph John Locke definierte Personsein einst über das bewusste Erinnern der eigenen Lebensgeschichte; danach wäre eine fortgeschritten dementielle Person tatsächlich „nicht mehr sie selbst“ . Aus moderner Sicht ist diese Schlussfolgerung jedoch zu eng. Denn wie Fuchs darlegt, existiert ein präreflexives Selbstgefühl, ein „Selbst als Subjekt“, das nicht an konkrete Erinnerungsinhalte gebunden ist . Dieses Selbstgefühl speist sich aus der leiblichen Kontinuität – dem Umstand, dass ich mich im eigenen Körper als dieselbe Person erfahre, auch ohne darüber nachzudenken. Solange jemand noch einen elementaren Ich-Bezug in der Gegenwart hat (sei es durch emotionale Reaktionen, Gesten, Augenaufschläge), ist ein Selbst präsent. Fuchs formuliert es so: Die Persönlichkeit persistiert aus Sicht Dritter im fortbestehenden Organismus (Körper) und aus Sicht der ersten Person im erlebenden Leib (Leib) . Mit anderen Worten, Personalität ist nicht identisch mit kognitiver Leistung.

Für den Umgang mit Demenz ist diese Einsicht zentral. Sie verschiebt den Fokus weg vom verlorenen Verstand hin zur Unterstützung des gelebten Körpers. Praktisch bedeutet das: Milieu und Pflege werden entscheidend, um die verkörperten Ressourcen anzusprechen. Statt abstrakter Orientierung an Kalenderdaten (die der Patient nicht mehr weiß) hilft es, vertraute räumliche Umgebungen und sinnliche Reize bereitzustellen, an die der Körper andocken kann . Zum Beispiel geben altvertraute Musik, Gerüche oder Orte dem Patienten Sicherheit, wecken Stimmungen und manchmal verschüttete Erinnerungsfragmente . Pflegende berichten häufig, dass ein demenziell Erkrankter plötzlich den Text eines alten Liedes mitsingen kann oder sich beim Tasten eines vertrauten Gegenstands beruhigt – Zeichen dafür, dass der Leib erinnert, auch wenn der Verstand schweigt. Hier treffen sich Hayles’ Theorie und die Praxis: Ein embodiment-orientierter Ansatz in der Demenzbetreuung sieht die Umgebung als Teil des erweiterten Geistes an – Erinnerung wird zu etwas, das im sozialen und materiellen Umfeld mitgespeichert ist, nicht nur in Neuronen . Moderne Technologien wie biografisch orientierte Virtual-Reality-Erlebnisse oder soziale Robotik müssten demnach so gestaltet werden, dass sie an diese verkörperten Gefühlswelten anknüpfen, statt bloß kognitive Defizite zu kompensieren.

Demenz als Herausforderung für Rationalität, Identität und Kultur

Anhand der drei Theoriestränge wird deutlich, dass Demenz im Schnittpunkt moderner Grundannahmen liegt. Einerseits verkörpert die Krankheit die Grenzerfahrung der Aufklärung: Sie zeigt, was passiert, wenn Vernunft und Gedächtnis – jene Fähigkeiten, mit denen das moderne Subjekt sich die Welt aneignet – nachlassen. Andererseits eröffnet der Blick durch die verschiedenen Theoriebrillen auch alternative Deutungsmöglichkeiten dieser Erfahrung.

Rationalität und wildes Denken: Die moderne Wissenskultur neigt dazu, rationales, analytisches Denken als höchste Form geistiger Aktivität zu betrachten. Demenz – insbesondere Alzheimer – wird aus dieser Sicht vor allem als Verlust von Rationalität und geordnetem Denken verstanden, oft begleitet von Begriffen wie „Entgeistigung“ oder „Zurückfallen in Infantilität“. Lévi-Strauss’ wildes Denken lehrt uns jedoch, dass jenseits der logischen Rationalität eine andere Ordnung des Denkens existiert, die in konkreten Bildern, Metaphern und Mythen logische Kohärenz findet. Übertragen auf Demenz könnte man fragen: In welcher „mythischen Welt“ lebt ein Demenzkranker, und hat diese Welt für ihn vielleicht eine innere Kohärenz und Sinnhaftigkeit, auch wenn sie für Außenstehende irrational erscheint? Tatsächlich berichten Pflegekräfte und Angehörige, dass Menschen mit Demenz sich oft ihre eigene Wirklichkeit erschaffen – sei es durch das Konfabulieren (Auffüllen von Gedächtnislücken mit erfundenen Geschichten) oder durch zeitliche “Neuordnung” der Erinnerung (z.B. das Gefühl, man befinde sich in der Jugend statt im Hier und Jetzt). Man kann diese Phänomene rein pathologisch deuten. Man kann sie aber auch – im Sinne eines wildes Denkens im Alter – als den Versuch des geschwächten Geistes verstehen, mittels Bricolage (Zusammenstückeln vorhandener Fragmente) ein sinnvolles Weltbild aufrechtzuerhalten. So wie mythisches Denken disparate Elemente der Umwelt zu einer erklärenden Erzählung verbindet, sucht das dementielle Denken nach Vertrautheit und Bedeutung, oft indem es Vergangenes und Gegenwärtiges neu kombiniert. Für Angehörige ergeben sich daraus Chancen: durch Validation und ein Eintauchen in die Erlebniswelt des Erkrankten (anstatt ständig auf Korrektur der Realität zu pochen) lässt sich Kommunikation und Verständnis aufrechterhalten – ein Ansatz, der implizit die Logik des „wilden“ (bildhaften, emotional-konkreten) Denkens anerkennt.

Ideologie, Moral und soziale Verortung: Die Art, wie Gesellschaften mit Demenz umgehen, ist stark kulturell geprägt und verrät ideologische Grundannahmen. Anthropologische Studien zeigen etwa, dass Demenzerleben in verschiedenen Kulturen unterschiedlich definiert und bewertet wird . In manchen indigenen Gemeinschaften Nordamerikas gibt es gar kein Wort für Demenz; man spricht stattdessen liebevoll-humorvoll von Personen, die „verwirrt“ oder „vergesslich“ sind . Gedächtnisverlust im Alter wird dort als natürlicher Teil des Lebenskreislaufs angesehen, „wie eine zweite Kindheit, in Vorbereitung auf die Rückkehr zum Schöpfer“ . Folglich ist das Stigma geringer und die Gemeinschaft versucht eher, die Betroffenen in ihrer veränderten Seinsweise zu integrieren . Dem steht die westliche Fortschrittsgesellschaft gegenüber, die Altern und kognitive Schwäche vor allem durch die Linse der Defizite betrachtet. Hier spricht man von einer drohenden “Demenz-Epidemie”, schildert Alzheimer gerne in Metaphern eines Verlusts der eigenen Persönlichkeit oder gar einer Art „lebenden Todes“ (häufig fällt der Vergleich mit Zombies, die ohne Geist umherwandeln). Solche Metaphern entlarven tiefliegende ideologische Vorstellungen: zum Beispiel die Annahme, der Wert eines Menschen hänge wesentlich an seiner ökonomischen Produktivität und rationalen Kontrollfähigkeit. Ein Mensch mit Demenz passt nicht in das Ideal des autonomen, rationalen Subjekts – was Ängste und Abwehrhaltungen in der Gesellschaft auslöst. Philosophen wie Mark Schweda kritisieren diese “Zombifizierung” von

Demenzkranken als ethisch problematisch, weil sie die Betroffenen sozial „ausschreibt“ und faktisch entmenschlicht (ihnen wird abgesprochen, noch ein erlebendes Selbst zu sein). Hier knüpft das Konzept des ideologischen Gehirns an: Es fordert uns auf zu reflektieren, welche impliziten Ideologien unser Bild vom dementiell veränderten Menschen bestimmen. Ist es die Fixierung auf Individualismus und geistige Souveränität, die uns davor zurückschrecken lässt, Demenz als Variante menschlichen Lebens anzunehmen? Aktuelle Bewegungen in Gerontologie und Pflege plädieren für einen kultur-sensiblen Umgang: Sie betonen, dass es kein universelles Schema gibt, wie Demenz zu verlaufen hat, sondern dass sozialer Kontext, Glaubenssysteme und Familienstrukturen das Erleben und die Ausdrucksformen von Demenz beeinflussen . So gesehen wird auch Demenz zu einem Ort der Aushandlung von Bedeutung: kulturelle Narrative (etwa ob man Demenz als “Verfall” oder als “Rückkehr zur Kindheit” begreift) können den Verlauf und Umgang spürbar beeinflussen.

Identität und Embodiment: Schließlich rührt Demenz an die Frage, was Identität im Kern ausmacht. Die Moderne beantwortete dies lange mit „Vernunft und Erinnerung“ – also genau den Kompetenzen, die Demenz aushöhlt. Die Embodiment-Perspektive bietet hier ein Gegenmodell: Identität gründet in einem gelebten Leib, in einer Verkörperung über die Zeit, die nicht bruchlos mit dem Verlust episodischer Erinnerungen endet. Zahlreiche Berichte von Angehörigen bestätigen, dass Emotionen und Persönlichkeitseigenarten von Demenzkranken oft bis zuletzt durchschimmern, wenn auch verändert. So erkennt eine einfühlsame Ehefrau vielleicht im Lächeln oder in der Art, wie ihr Mann die Hand drückt, noch den gleichen geliebten Menschen – trotz fehlender Namen oder Daten. Solche Erfahrungen stützen die Annahme, dass das Selbst ein relationaler Prozess ist, kein statischer Datenspeicher im Kopf. Identität äußert sich in Beziehungsgesten, in Atmosphären, die ein Mensch verbreitet, in seinem Habitus. Auch Thomas Fuchs argumentiert, dass die Person in der zwischenleiblichen Interaktion fortbesteht – beispielsweise im musikalischen Dialog, im gemeinsamen Schaukeln oder Tanzen, wo ein implizites Verstehen stattfindet, das keine begriffliche Erinnerung braucht . Damit wird Demenz von einer reinen Tragödie des Verlusts zu einer Veränderung der Kommunikationsform: von der expliziten zur impliziten, von der sprachlichen zur körperlichen. Für die moderne Gesellschaft, die so stark auf Schrift, Zahlen und Datenspeicherung baut, ist dies eine schwierige Lektion. Doch es eröffnet auch einen Weg zu inklusiveren Menschenbildern: Solche, die Verletzlichkeit, Abhängigkeit und körperliche Ko-Präsenz nicht als Widerspruch zum Personsein sehen, sondern als dessen grundmenschliche Bedingungen.

Synthese: Interdisziplinäre Verknüpfungen und kritische Ausblicke

Durch die parallele Betrachtung der drei Theoriemodelle zeigen sich wechselseitige Ergänzungen und Spannungsfelder. Sie alle drehen sich um die Kritik am eindimensionalen Rationalismus der Moderne, doch setzen unterschiedliche Akzente:

· Wildes Denken erinnert daran, dass kognitive Vielfalt kein Fehler, sondern ein Schatz ist. Es legitimiert die Existenz von Pluralitäten des Denkens – vom logisch-wissenschaftlichen bis zum mythisch-intuitiven – in jeder Gesellschaft. In der Begegnung mit Demenz kann dieser Gedanke produktiv sein: Anstatt nur den Verlust

rationaler Ordnung zu beklagen, könnten wir nach anderen Sinnordnungen suchen, die für Betroffene noch verfügbar sind (z.B. emotionale Sinnstiftung, metaphorische Deutungen). Allerdings bleibt zu fragen, inwiefern Lévi-Strauss’ strukturalistische Sicht heutigen Erkenntnissen standhält. Seine Idee universaler Strukturen im Wild- und Zivilisationsdenken könnte durch die Neurowissenschaft nuanciert werden: Zwar mögen alle Menschen mythisch denken können, doch kulturelle und individuelle neurologische Prägungen entscheiden, wann und wie dies auftritt. Hier bildet das ideologische Gehirn eine Brücke, indem es zeigt, dass Kultur in unsere neuronalen Netze eingeschrieben ist. Die Fähigkeit zum “wilden Denken” könnte also bei manchen Menschen/Hirnen präsenter sein als bei anderen, abhängig von Entwicklungsbedingungen und vielleicht sogar Genetik. Das birgt eine spannende interdisziplinäre Forschungsfrage: Lassen sich neurokognitive Korrelate für das, was Lévi-Strauss “mythisches Denken” nennt, identifizieren? Und wie verhält sich das bei Demenz – gibt es eine Art “Rückkehr” zu archaischen Denkstilen, die neurophysiologisch messbar ist (etwa verstärkte bildhafte Assoziationen, wenn Frontalbereiche degenerieren)? Solche Fragen zeigen, wie Anthropologie und Neurowissenschaft zusammenfinden könnten.

· Das ideologische Gehirn seinerseits profitiert von den anderen Perspektiven als Korrektiv gegen Verkürzung. Einerseits mahnt die Embodiment-Theorie, dass wir nicht dem Neuro-Essentialismus verfallen dürfen – Ideologie ist nicht nur Gehirn. Sie ist auch im Körper und im sozialen Geflecht verteilt (etwa in Gesten, in Ritualen, in Sprache). Hayles’ Hinweis auf die “Technologien der Inskription” und die materiellen Träger von Kognition ist hier relevant: Ideologie manifestiert sich z.B. in Büchern, digitalen Medien, Denkmälern – all das sind externe Speicher unseres “ideologischen Geistes”. In der Praxis von Demenz heißt das: Wenn Erinnerung im Gehirn schwindet, können externe Gedächtnisstützen (Fotoalben, Musikaufnahmen, vertraute Objekte) ideologische und identitäre Narrative weitertragen. Andererseits erweitert wildes Denken den Blick darauf, dass Ideologien selbst oft mythische Züge haben. Politische Ideologien bedienen sich Narrative, Symbole, Feindbilder – alles Elemente, die strukturanthropologisch als moderne Mythen gelesen werden können. Ein Demenzkranker, der z.B. in paranoide Wahnvorstellungen abgleitet (etwa Verfolgungsideen), konstruiert vielleicht eine persönliche Ideologie aus Bruchstücken seines Lebens (Misstrauen, frühere Weltbilder), um seinem Erleben Sinn zu geben. Die Grenze zwischen “Mythos” und “Ideologie” verschwimmt hier. Produktiv neu verknüpfen ließe sich das, indem man erforscht, wie Krankheitserleben narrativ aufgeladen wird – eine Schnittstelle von Kulturwissenschaft (Erzählmotive), Neurowissenschaft (veränderte Realitätsverarbeitung) und Anthropologie (Sinnbildung in Extremsituationen).

· Embodiment fungiert schließlich als Integrationsfolie, stellt aber auch kritische Fragen an die anderen Modelle. Sie erinnert daran, dass sowohl mythisches Denken als auch ideologische Kognition immer verkörpert stattfinden. Lévi-Strauss konzentrierte sich vor allem auf mentale Strukturen und Symbole, weniger auf konkrete Körper. Hier könnte Hayles einwenden: Wer denkt? Es denken keine abstrakten Geister, sondern verkörperte Wesen, deren Sinnesapparat und Emotionen ins Denken einfließen. In der Anthropologie wird dies zunehmend anerkannt (Stichwort sensorische Ethnographie). Das ideologische Gehirn wiederum darf nicht als rein im Schädel sitzende Maschinerie verstanden werden – es agiert in einem Körper, der durch Ernährung, Hormone, Alterung und Krankheit moduliert wird. Demenz selbst ist ein drastisches Beispiel: Ein pathologischer Körperprozess (Proteinablagerungen, Zellschwund) verändert Denken und Persönlichkeit. Die Embodiment-Theorie fordert also ein ganzheitliches Modell: Kulturelle Symbolik, neuronale Dynamik und leibliche Erfahrung gehören untrennbar zusammen. Gerade im Umgang mit Demenz müssen daher biologische, psychologische und soziale Ansätze Hand in Hand gehen.

Spannend ist, dass all diese Theorien – jede auf ihre Weise – die Grenzen des klassischen Individualismus betonen: Sei es durch Hinweis auf kollektive Mythen, auf ideologische Gemeinschaftsgefühle oder auf die Einbettung in materielle Kontexte. Hier liegt eine konzeptionelle Schnittmenge, die weiter ausgearbeitet werden könnte: Ein Menschenbild, das weder in absoluter Individualautonomie noch in bloßer Biologie aufgeht, sondern den Menschen als bio-psycho-soziales und kulturelles Wesen versteht.

Zusammenfassend ergänzen die drei Ansätze einander zu einem reichen Bild: Der moderne Mensch ist ein homo narrans et somaticus – ein erzählendes und leibliches Wesen, dessen Vernunft nur ein (wichtiger, aber begrenzter) Teil eines größeren kognitiven Ökosystems ist. Wildes Denken mahnt, die Vielfalt kognitiver Modi anzuerkennen; das ideologische Gehirn zeigt, wie tief Kultur und Biologie verwoben sind; Embodiment stellt klar, dass alles Denken ohne den lebendigen Träger sinnlos wäre. Demenz führt uns all diese Punkte schmerzlich vor Augen – und kann so, wie paradox es klingt, zum Lehrmeister über das Menschsein werden, insofern sie unsere theoretischen Konzepte herausfordert, integrativer und demütiger zu werden.

Fazit und Ausblick

Die Auseinandersetzung mit wildem Denken, ideologischem Gehirn und Embodiment vor dem Hintergrund von Demenz enthüllt ein zentrales Motiv: die Kritik an einem reduktionistischen Verständnis von Vernunft und Personsein. Alle drei Theorien – aus Anthropologie, Neurowissenschaft und Posthumanismus – fordern auf, den Menschen nicht nur als rationalen, isolierten Verstand zu begreifen. Stattdessen zeichnen sie ein Bild vom Menschen als symbol- und geschichtenerzählendes, sozial beeinflusstes und leiblich verankertes Wesen. Gerade in einer Zeit, in der Alterserkrankungen wie Demenz zunehmen, bietet dieser ganzheitliche Blick wichtige Impulse. Er betont Würde und Sinnhaftigkeit auch in Phasen kognitiver Schwäche und regt dazu an, moderne Konflikte (etwa zwischen Wissenschaft und Tradition, Individualität und Gemeinschaft, Technik und Körperlichkeit) neu zu denken.

Zum Abschluss seien einige Ansatzpunkte für weiterführende Diskussion und Forschung skizziert:

· Transkulturelle Demenzforschung erweitern: Wie lassen sich indigene oder nicht-westliche Konzepte (etwa Demenz als “zweite Kindheit” ) fruchtbar mit westlichen neurokognitiven Modellen verbinden? Interdisziplinäre Projekte könnten zeigen, wie kulturelle Narrative therapeutisch genutzt werden können, um Demenzkranken ein sinnstiftendes Umfeld zu bieten.

· Neuroanthropologie des Mythos: Empirische Studien könnten untersuchen, ob und wie sich mythisch-bildhaftes Denken neurologisch niederschlägt. Etwa: Aktivieren Menschen mit Demenz verstärkt Netzwerke des Default Mode (spontanes Tagträumen) oder emotionale Bahnen, wenn sie in konfabulative Erzählwelten

eintauchen? Solche Erkenntnisse könnten sowohl Lévi-Strauss’ Thesen überdenken als auch neue nicht-pharmakologische Therapieansätze anregen (z.B. Erzählen von Biographie-Märchen zur Stabilisierung der Identität).

· Ethische und philosophische Reflexion: Angesichts der ideologischen Dimensionen unseres Gehirnverständnisses braucht es Diskussionen, welche Menschenbilder unsere Gesellschaft prägen sollen. Könnte ein embodiment-basiertes Personkonzept (Person = gelebte Leiblichkeit und Beziehungsfähigkeit statt nur kognitive Autonomie) zu weniger Stigmatisierung von Demenz führen? Diese Frage berührt Ethik, Recht (Stellvertretungsentscheidungen, Patientenverfügungen) und Sozialpolitik gleichermaßen.

· Technik und Embodiment in der Pflege: Entwicklung und Einsatz von Hilfstechnologien (Assistenzroboter, intelligente Wohnräume) sollten auf Embodiment-Prinzipien geprüft werden. Ziel zukünftiger Forschung könnte ein Design, das sensorische Stimulation, Bewegungsförderung und soziale Interaktion vor rein kognitiver Unterstützung priorisiert, um die Verkörperung des Selbst zu stärken statt zu unterminieren.

· Integration in Ausbildung und Praxis: Schließlich wäre zu überlegen, wie die genannten Theorien Eingang in die Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften, Ärztinnen, Therapeutinnen finden können. Ein holistisches Ausbildungsmodul “Kultur, Gehirn und Körper in der Demenz” könnte praktische Ansätze (Validation, Biografiearbeit, Musik- und Kunsttherapie) mit theoretischem Verständnis (wildes Denken, ideologisches Gehirn, Embodiment) verknüpfen und so einen Paradigmenwechsel in der Versorgung unterstützen.

Abschließend lässt sich festhalten: Die Konfrontation mit Demenz legt die blinden Flecken unseres modernen Selbstverständnisses frei. Indem wir Lévi-Strauss, Zmigrod und Hayles in einen Dialog treten lassen, gewinnen wir ein tieferes Verständnis dafür, wie Menschsein jenseits purer Rationalität gedacht werden kann – verwundbar, kreativ, vernetzt und verkörpert. Dies ist nicht nur theoretisch bedeutsam, sondern auch praktisch humanisierend im Umgang mit den Schwächsten unserer Gesellschaft.

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