Großmutter - Eine literarische Demenzgeschichte (Teil 1)

Vor etlichen Jahren - als das Wort Demenz und seine Bedeutung in der breiteren Öffentlichkeit noch kaum bekannt waren -, schrieb ich eine Geschichte über das Erinnern und Vergessen: 'Großmutter'. Durch ihren literarischen Umgang mit dem Thema wirft sie einen ganz eigenen Blick auf die Krankheit.
'Großmutter' ist eine Erzählung aus meinem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Band mit Liebesgeschichten: ‚Die Liebe am Nachmittag‘.



Großmutter

Als ich nach dem Tod meiner Eltern zu ihr kam, empfing sie mich mürrisch und beachtete mich kaum. Aber in den ersten beiden Jahren trauerte ich um meine Eltern, die bei einem Verkehrsunfall umgekommen waren, und interessierte mich nicht dafür, was um mich herum geschah. Ich blieb in meinem Zimmer und hing meinen Gedanken nach oder schlief: schlief zehn oder zwölf, vierzehn oder sechzehn Stunden, ohne dass ich den Schlaf suchte.

Großmutter hatte in Oxford Islamistik gelehrt und kannte sich aus in der Literatur des Irans und Pakistans. Auch sie blieb zumeist in ihrem Zimmer, arbeitete, las und ging nur selten aus. Ich sah sie kaum mehr als andere Menschen. Wenn sie kochte, fragte sie nicht, ob ich etwas wollte, sondern stellte, gleich, ob ich schlief oder wach war, einen Teller vor die Tür meines Zimmers. Sie fütterte mich wie eine ihrer Katzen.

Ohne dass ich es merkte, wurde sie in diesen beiden Jahren fast taub und blind. Ich erfuhr erst davon, als die Gemeindeschwester, die uns manchmal besuchte, anbot, die alte Frau zu versorgen. Doch als Großmutter das Getuschel mitbekam und den Grund dafür erfuhr, beschimpfte sie die Schwester und schickte sie fort. Von nun an rief Großmutter mich, wenn sie Hilfe brauchte, und wollte niemanden sonst um sich haben.

Es kamen danach Monate, in denen es aussah, als lösche sie große Teile ihrer Vergangenheit. In seltener werdenden lichten Augenblicken erzählte sie vom Mittleren Osten, wo sie zwei Jahrzehnte gelebt und gearbeitet hatte, bevor sie nach England gegangen war. Zwischen dem Ende ihrer Lehrtätigkeit in Oxford und dem Bezug unserer Wohnung lag eine Reihe von Jahren, über die sie schwieg. Die Übersiedlung schien eine Irrfahrt gewesen zu sein, und sie sprach bitter davon, dass sie den größten Teil ihrer Sammlungen verloren hatte. Dabei waren alle Räume bis unter die Decke vollgestopft mit alten Büchern, Schmuck und Geschirr, mit Teppichen, Wandbehängen und Bildern aus allen Landschaften Pakistans.

Sie besaß weder Radio noch Fernseher und verlangte von mir, dass ich jeden Tag las: ein Buch oder zumindest einen Teil davon. Dann sprach sie mit mir darüber wie mit einem zu examinierenden Studenten.

Sag mir: Was hast du daraus gelernt? Fragte sie. Hält es deinen eigenen Erfahrungen stand? Nein? Oh, Allah! Dann prüfe gefälligst diese kümmerlichen Erfahrungen!

Die Prüfungen zur Teestunde wurden zum Ritual. Irgendwann begann ich es zu hassen, merkte aber auch, dass ich mich daran festhielt, all die Jahre.

Großmutter fragte stets nach Erfahrungen (die ich selten vorweisen konnte) und nie nach Verstand, Vernunft oder Logik. Also fing ich aus fundamental verstandener Opposition heraus damit an, logisch zu denken.

Jedenfalls glaubte ich das zu tun. Denn wenn ich der Meinung war, etwas begriffen zu haben, flocht Großmutter sogleich mögliche Varianten, Täuschungen und Lügen in den Strom ihres Wissens und stellte alles wieder in Frage.

Ich lernte den Zweifel, lernte ihn so gut, dass er mir den Schlaf raubte: von nun an brauchte ich die Nächte, um Bücher und Schriften zu lesen, bei denen ich sicher war, dass Großmutter sie mir bei Tageslicht vorenthielt. Aber der Schlaf schien noch seltsam unbegrenzbar, wie das Leben, und ich schlief am Tage, wann immer ich für ein paar Augenblicke zur Ruhe kam.

Großmutter unterrichtete mich in Urdu, gab mir die Liebesgedichte von Mir zu lesen und trug ihre eigene, von Wehmut leise verhallende Übersetzung vor. Sie dozierte über die unsterblichen Verse persischer und arabischer Dichter, erklärte, wie sie im zwölften oder achtzehnten Jahrhundert in der Gesellschaft Westindiens entstanden waren und fügte apodiktisch hinzu, wie ich sie heute zu verstehen hätte.

Seltsamerweise lehrte sie über die orientalische Liebeslyrik und die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, dass diese zeigten, wie ausgerechnet in der Liebe die eigene Erfahrung weniger gelte als Verstand, Vernunft oder Logik! Jederzeit bereit zu zweifeln, war ich sicher, dass Großmutter etwas anderes meinte – traf später aber nur Frauen, die Unwissenheit forderten, Unvernunft und Selbstverleugnung, Frauen, die Ungeschicklichkeiten und einen ungewissen Ausgang der Routine vorzogen, Frauen auch, die einem Mann an Egoismus, jenem Schwungrad der Liebe, nicht nachstehen wollten. Denn wunderbar war, in langen Nächten jene Augenblicke zu teilen, wenn die Logik der Aufklärung vor einer ganz unlogischen Neigung zum Detail versagt!

Fragte sie nach diesen widersprüchlichen Lektionen über die Liebe ihr übliches: Was hast du daraus gelernt? so spürte ich einen sentimentalen Unterton: gleichsam ein Mitleiden mit den Frauen, die mir einmal begegnen würden.

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