
Alter Mann mit Erinnerungen an ein gelebtes Leben / Quelle: ChatGPT, erstellt auf der Basis figurierter Abfrage
Künstliche Intelligenz (KI) verspricht, Wissen zu speichern, Entscheidungen zu treffen und unseren Alltag zu erleichtern. Doch was geschieht, wenn wir die Idee noch weiterdenken und Bewusstsein oder gar Identität vollständig in digitale Systeme auslagern? Die US‑Literatur‑ und Medientheoretikerin Katherine N. Hayles stellt in ihrem Werk How We Became Posthuman (1999) genau diese Frage – und kommt zu einer klaren Antwort: Ohne Körper gibt es keine ganzheitliche Intelligenz.
Als Leiter von (de)mentia+art und langjähriger Kulturbegleiter für Menschen mit Demenz und mit psychischen Beeinträchtigungen begegnet mir diese Erkenntnis täglich. Erinnerungen sind eng mit Gerüchen und Geräuschen, Berührungen und Bewegungen verknüpft. In diesem Artikel verbinde ich Hayles’ theoretischen Rahmen mit praktischen Erfahrungen aus der museumspädagogischen Arbeit vor allem im Bereich Inklusion und zeige, wie KI sinnstiftend eingesetzt werden kann.
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1 | Verkörperung verstehen
Embodiment (Verkörperung) bezeichnet die untrennbare Einheit von Geist, Körper und Umwelt (Katherine N. Hayles)
Seit den 1990er‑Jahren warnen Kultur‑ und Medienwissenschaftler*innen vor einem „posthumanen“ Menschenbild, das Bewusstsein als reine Information begreift. In diesem Szenario wäre unser Körper lediglich eine austauschbare Hardware‑Hülle. Doch Empfindungen, Erinnerungen und Sinneseindrücke haben immer eine körperliche Basis. Bildlich gesprochen: Ein Tanz wird erst lebendig, wenn wir die Muskelspannung, das Gleichgewicht und den Dialog mit dem Raum spüren – eine PDF der Schrittfolge genügt nicht.
Exkurs: Zwei Formen des Posthumanismus
- Technologischer Posthumanismus träumt vom Upload des Geistes und kybernetischen Upgrades.
- Kritischer Posthumanismus hinterfragt, wer Zugang zu solchen Technologien hat und wer ausgeschlossen bleibt.
Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie den verletzlichen, gealterten oder erkrankten Körper leicht übersehen – genau jenen Körper, der etwa im Kulturbereich den entscheidenden Unterschied ausmacht.
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2 | Demenz zeigt die Grenzen des Posthumanen
Demenz ist wie ein ungebetener Gast, der langsam die Bibliothek des autobiografischen Gedächtnisses plündert: Zuerst verschwinden einzelne Wörter, schließlich ganze Regalreihen episodischer Erinnerungen. Sinnliche, emotional verankerte Erlebnisse bleiben hingegen oft erstaunlich lange erhalten. Der Duft von Ölfarbe ruft ein Jahrzehnte altes Ateliererlebnis wach; das kühle Relief einer Marmorstatue lässt Vergessenes wieder aufblitzen; auch das Kreischen eines Stifts über der Schiefertafel bleibt uns nachdrücklich erhalten.

Otto Freundlich: Büste, Museum Ludwig
Praxisbeobachtung
Im Museum Ludwig in Köln betrachtete eine Gruppe von Menschen mit Demenz die Büste von Otto Freundlich. Eine Teilnehmerin mit mittlerer Demenz, sehr alt, im Rollstuhl zusammengesunken, war bis dahin schweigsam dabei… Bei der Gruppe war meine Ausgangsfrage umstritten, ob das eher ein Mann oder eine Frau war…? Ich hatte das bewusst offen gelassen. Unter anderen antwortete ein wuchtig großer Mann, dass nur ein Mann so streng und entschlossen aussehen könnte. Doch die alte Frau regte sich plötzlich und erzählte, dass ihre Mutter auf dem Totenbett s o , nämlich streng im Profil ausgesehen habe: Sie habe nach dem ersten Krieg ihre vier Kinder allein durchbringen und sich als Geschäftsfrau unter Männern durchsetzen müssen…
Eine Erinnerung, die in keiner Datenbank gespeichert war, sondern allein im Zusammenspiel von Körper und Atmosphäre existierte. Hervorgerufen wurde dies durch die gezielte Begegnung mit einem Kunstwerk. Von mir zwar geplant und angelegt – aber letztlich in eine Black Box hinein.
Identität ist mehr als Information; sie wurzelt im biologischen Substrat
als einer körperlich gewordenen Schichtung von Erfahrungen.
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3 | KI als Partner: Teilhabeorientierte Vermittlung
Seit einiger Zeit erprobe ich für die teilhabeorientierte Vermittlung die KI als assistierendes Werkzeug. Allerdings nur in der Vorbereitung. Schon dabei sollen die zwischenmenschlichen Beziehungen bewusst ins Zentrum rücken. Als Historiker gehört für mich stets eine Grundorientierung dazu, die sich an der allgemein prägenden Alltagskultur einer Epoche ausrichtet. Zeitlich ist dabei jener in der Gedächtnisforschung benannte „Erinnerungshügel“ von besonderer Bedeutung. In jeder Generation etwa die Zeit zwischen 10. und 25. Lebensjahr.
Gezielte Abfragen (Prompts) an die KI liefern sodann Hintergrundinfos, Bildbeschreibungen (auch in leichter Sprache) und sinnliche Assoziationen. Die Auswahl und Umsetzung im Museum bleibt jedoch letztlich mir als dem Guide vorbehalten.
Wichtig ist eine strukturierte Abfrage
Ich muss wissen, wovon ich rede und was ich genau will und erwarte. Ich muss in der Lage sein, der KI zu antworten: Das ist Blödsinn! Das ist schwach! Gib dir mehr Mühe! Denn ich will eine Hilfestellung von der KI: Time is Money. Aber die KI bleibt Souffleuse, nicht Regisseurin! Das Wichtige, die teilhabeorientierte Vermittlung gegenüber Menschen (mit Beeinträchtigungen), mache ich selbst.
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Praxisbeispiel
Menschen mit Demenz verfügen ungeachtet eines (möglichen) kognitiven Abbaus oft über eine feine sensorische Wahrnehmung für Farben und Stimmungen. Wenn wir diese emotionalen Ebenen ansprechen und das Entdecken eines Kunstwerks darauf zulaufen lassen, werden sie gleichsam zu Expert*innen ihrer unmittelbaren Erfahrung – und erleben nicht zuletzt ihre Selbstwirksamkeit an einem öffentlich herausgehobenen besonderen Ort wie einem Museum. Eine gezielte Abfrage mündet stets mit Blick auf diese emotionalen Kontexte, Wahrnehmungen und Erinnerungen mit dem Ziel der Ressourcenstärkung.
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Abfrage (an ChatGPT): August Macke – Frau mit grüner Jacke (1913) / Museum Ludwig
Kurze Bildbeschreibung
Eine Szene in leuchtenden, flächigen Farben: Im Zentrum eine Frau in grüner Jacke und rostrotem Hut, halb vom Betrachter abgewandt. Links ein dunkel gekleideter Mann mit Partnerin in Rosa; rechts ein weiterer Herr und eine Dame in kühlem Lavendel. Ein intensiv blaues Wasser bildet den Hintergrund unter einem Baum in limettengrünen Tönen. Macke überträgt Stimmung statt Detail – Farbe schafft Raum.
Anmerkung
Diese Beschreibung wäre mir zu oberflächlich und zu wenig detailliert. Ich würde die KI auffordern, sich mehr anzustrengen.
Künstlerische & historische Aspekte
- 1913 gemalt, kurz vor Mackes Tod 1914.
- Mitglied „Der Blaue Reiter“; Einflüsse des Fauvismus & Orphismus.
- Komplementärdialoge: Grün/Rot, Blau/Ocker.
- Thema Flanieren – modernes Lebensgefühl in idyllischer Umgebung.
- Figurengruppen ohne Gesichtszüge laden zur Projektion eigener Geschichten ein.
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Anmerkung
Auch diese Beschreibung wäre mir zu wenig. Allerdings sind die Stichworte „Flanieren/modernes Lebensgefühl“ und „Projektion eigener Geschichten“ unerwartet.
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Ressourcenorientierte Einstiegsfragen –
Die Antworten der KI:
- Welche Farbe springt Ihnen zuerst ins Auge – und welche Stimmung ruft sie hervor?
- Wie warm fühlt sich die Sonne auf Ihrer Haut an?
- Wohin könnte der nächste Schritt der Frau führen?
- Was verrät der blaue See über Ort oder Jahreszeit?
- Welchen Geruch assoziieren Sie mit der Szene?
- Erleben Sie die Distanz der Figuren als freundlich oder reserviert?
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Anmerkung
(Ich erspare Ihnen einige doofe Fragen…)
Wir sehen, dass sich bei den teilhabeorientierten Fragen durch die KI eine Fokussierung auf äußere Sinneswahrnehmungen vorherrscht. Eine Schwachstelle der künstlichen Intelligenz, weil nicht deutlicher etwas Banales von Existentiellem abgegrenzt wird. Ein Guide wird auf der Basis seiner Erfahrungen „aussieben“.
Emotionale Vertiefung – 10 Fragen zum Gefühls‑ und Beziehungsgeflecht –
Die Antworten der KI:
- Welche Stimmung lesen Sie im Rücken der Frau – gespannt, gelöst, nachdenklich?
- Könnte sie ein einziges Wort aussprechen: Welches Gefühl wäre es?
- Fühlt sie sich dem linken Paar zugehörig oder abseits?
- Was löst das Gemurmel des Paares in ihr aus?
- Welche eigene Erinnerung käme Ihnen an ihrer Stelle?
- Möchte sie sich den anderen zuwenden oder genießt sie einen Moment für sich?
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Anmerkung
(Auch hier erspare ich Ihnen einige doofe Fragen… )
Erkennbar ist die Sprache nicht geschmeidig und empathisch genug, um die Fragen für Besucher*innen zu nutzen: zu komplex, zu abgehoben. Das heißt: auch diese Abfrage muss anders figuriert werden. Inhaltlich ist es jedoch schon eine Annäherung.
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Ethische Leitplanken
- Katherine N. Hayles: How we became Posthuman, 1999
- Montreal Declaration for Responsible AI (2018): fordert Transparenz, Inklusion und Wohlergehen.
- EU AI Act (2025): Wie oben. Weist aber deutlicher auf Risiken hin und fordert Regulierung und Kontrolle.
- Tom Kitwoods person‑centred care: erinnert uns daran (wie Hayles), dass mensche Beziehung zentral für das Verhältnis von Körper und Geist ist.
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Ausblick & Einladung
Künstliche Intelligenz klug eingesetzt kann eine Brücke zwischen kognitiven Barrieren und kulturellen Räumen sein. Technologie soll Teilhabe ermöglichen, nicht menschliche Beziehungen ersetzen. Technik wird sodann Helferin bei dem Ziel, für Menschen mit Demenz (und anderen Beeinträchtigungen) auch bei Angeboten kultureller Teilhabe ihre Würde zu bewahren.
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Meta‑Daten
Slug: /ki‑demenz‑embodiment
Meta‑Description (155 Zeichen): Wie KI Museumsführungen für Menschen mit Demenz bereichert und warum Körperlichkeit der Schlüssel bleibt – ein Kommentar von (de)mentia+art.
Text: Jochen Schmauck‑Langer | (de)mentia+art, Köln