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In loser Folge erscheinen hier Texte, die kognitve (Demenz) und psychische Beeinträchtigungen mit geisteswissenschaftlichen Entwicklungen verbinden. Manche Themen – wie das „Wilde Denken“ – tauchen schon vor 10 Jahren in meinen Schulungen auf…
Die Blackbox Künstliche Intelligenz fordert uns ab, strukturierte Fragen zu stellen. Die Zusammenarbeit (etwa mit ChatGPT) führt im besten Fall zu Ergebnissen, die es ohne meine präzise Figurierung, Steuerung und Nachfrage nicht gäbe. Materialien von ChatGPT werden sodann von mir inhaltlich und sprachlich weiter bearbeitet und geglättet. (JSL)
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1. Ein Bild, das uns in Bewegung bringt?
Paul Klees Gemälde „Hauptweg und Nebenwege“ aus dem Jahr 1929 zeigt auf den ersten Blick eiin abstraktes Netz aus Linien und Farbfeldern. Aber wenn wir es näher betrachten, sehen wir: Da gibt es eine Art Hauptstraße, die von unten gerade nach oben verläuft – hell, klar abgegrenzt. Und daneben: viele kleinere, verschnörkelte Wege, die unterbrochen sind, in Kurven verlaufen, ins Leere führen. Es sieht ein bisschen aus wie ein Stadtplan oder eine Karte, die uns Wege zeigt – aber weniger Wege zu echten Orten, als Wege, die Erfahrungen betreffen. Erfahrungen, die etwas über unser Leben, über das Denken und Planen und vielleicht auch über mögliche Bewegungen in unserer Zukunft sagen.
Paul Klee hat dieses Bild sehr bewusst gestaltet: Die vertikalen Hauptlinien sind sorgfältig mit Lineal gezogen, die Nebenwege dagegen wirken fast wie mit der Hand gezeichnet – unregelmäßig, tastend, fast spielerisch. Es geht also um zwei Arten, sich zu orientieren: eine gerade, geplante, vorausschreitende, und eine offene, suchende.
2. Orientierung: Nur wissen, wo’s langgeht?
Wenn wir „Orientierung“ hören, denken wir oft an Landkarten oder Navigationsgeräte. Aber im tieferen Sinn bedeutet Orientierung viel mehr: Es ist eine zentrale Kategorie unseres Lebens. Es geht darum, wie wir uns in der Welt zurechtfinden – also nicht nur im Raum, sondern auch im Denken, im Fühlen, im Handeln. Mit der Voraussetzung, dass man sich zuverlässig auch in seinem Kopf zurechtfinden kann.
Die Aufklärung – also das Zeitalter, in dem Vernunft und Wissenschaft zum Maßstab wurden – glaubte fest an einen Hauptweg: den Weg des Fortschritts, der Vernunft, der Kontrolle. Wer diesem Weg folgt, kommt ans Ziel – so die Vorstellung. Doch natürlich habe ich Paul Klees Bild hier ausgewählt, weil es etwas anderes zeigt: Es zeigt, dass neben dem Hauptweg auch viele Nebenwege existieren – Wege, die nicht geradlinig sind, die aber dennoch bedeutsam sein können. Wege, die nicht unbedingt zu einem „Ziel“ führen, aber vielleicht zu einer neuen Sichtweise. Klee macht deutlich: Umwege können Erkenntnisse fördern. Nicht nur auf der Landkarte.
3. Nebenwege als Denk-Wege: Das „Wilde Denken“
Ein solcher Nebenweg ist das, was der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss das „Wilde Denken“ genannt hat. Er meinte damit nicht unvernünftiges Denken, sondern eine andere Art, eine andere Basis, die Welt zu ordnen: Menschen in sogenannten „indigenen“ Kulturen – also in nicht-industrialisierten Gemeinschaften – ordnen Tiere, Pflanzen, Jahreszeiten, Farben und Klänge nicht durch wissenschaftliche Klassifizierung und Gesetzmäßigkeiten, sondern durch Erfahrungen, durch Geschichten, in denen mit allen Sinnen Vergleiche herangezogen werden: aus der Natur und dem Kosmos, aus dem sozialen Zusammenleben.
Das bedeutet, dass eine andere Art von „Geschichte“ entsteht. Das wirkt auf uns vielleicht unlogisch – aber es ist ein tiefes Wissen, das zum Beispiel hilft, Heilpflanzen zu finden oder Jahreszeiten und die Erscheinungen am Himmel genau zu deuten. Klees Nebenwege stehen symbolisch für dieses andere Denken. Sie folgen keiner klaren Route, aber sie erschließen eine Welt, in der nicht alles geplant ist, sondern vieles sich erst im Gehen erschließt.
4. Orientierung in einer krisenhaften Zeit: das Anthropozän
Heute stehen wir als Menschheit an einem Punkt, wo unser „Hauptweg“ an eine Sackgasse stößt. Wissenschaftler nennen unsere Epoche das „Anthropozän“. Das bedeutet für die Erdgeschichte, die wir überblicken können: Ein Zeitalter, das etwa mit der Industriellen Revolution begonnen hat, in dem der Mensch zur größten und prägenden Kraft auf der Erde geworden ist, mit all den Folgen wie Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung. Wir haben – vor allem in den westlichen Gesellschaften – viel Gutes entwickelt. Technik, Industrie, Wachstum. Aber der verantwortliche Kontakt zur Erde und zum Zusammenleben mit anderen Lebewesen ist verloren gegangen. Der gerade Weg hat uns erkennbar nicht ans Ziel geführt.
Die Philosophin Donna Haraway sagt: Wir müssen lernen, „tentakulär“ zu denken – wie ein Oktopus, der mit seinen Armen in alle Richtungen tastet. Also nicht mehr nur linear, zielgerichtet, sondern tastend, vernetzt, in viele Richtungen zugleich. Klees Bild passt genau zu dieser Idee: Es ist ein Netz, ein Gewebe von Wegen. Manche enden, andere verbinden sich. Und es liegt an uns, ob wir immer nur dem Hauptweg folgen – oder ob wir bereit sind, die Nebenwege mit schwierigeren, weniger rentablen Bedingungen anzunehmen.
5. Was wir von Menschen mit Demenz lernen können
Jetzt kommt – angesichts meines „Vorworts“ – ein wenig überraschender Gedanke: Nicht nur Menschen in indigenen Kulturen sondern auch Menschen mit Demenz können uns zeigen, wie ein Leben jenseits eines Hauptweges aussieht. Ihre Beweggründe, ihr „Denken“ blitzt dabei manchmal für uns dechiffrierbar auf. Wir nennen das Lichtungen.
Wenn das Gedächtnis nachlässt, wenn Zeit und Raum verschwimmen, verlieren viele Menschen schon recht früh die Fährigkeit zur gewohnten Orientierung. Gleichzeitig entstehen neue Formen von Gegenwärtigkeit: Gefühle und Affekte werden unmittelbarer. Stimmungen erscheinen nicht mehr als durch ein „vernünftiges“ Verhalten eingegrenzt. Menschen erinnern sich an Lieder, an Gerüche, an Farben. Ein direkterer Zugriff auf wichtige episodische Inhalte ist möglich. Im sogenannten „Erinnerungshügel“ werden besonders prägende starke emotionale Erlebnisse abgelegt. Obwohl vor vielen Jahren erlebt und gespeichert, tritt diese Welt nicht weniger in Erscheinung als die jeweils gegenwärtige. Sie ist eine Art von Orientierung, aber sie ist nur anders strukturiert.
Klees Bild kann auch so gelesen werden: als ein Bild von Erinnerung und Vergessen, von klaren Linien und verschwommenen Wegen. In der Kunsttherapie sehen wir: Menschen mit Demenz können durch Farben, Formen und Rhythmen wieder in Beziehung treten – sie finden Wege, die nicht über den Verstand, sondern über die Sinne führen. Die Angebote von (de)mentia+art verstehen sich nicht als therapeutisch. Doch greift das Format der teilhabeorientierten Vermittlung durch das strukturell angelegte Entdecken auf. Das gemeinsame Beschreiben eines Bildes ist zugleich eine Art von Tasten nach möglichen Lichtungen, bei dem im besten Fall eine Art von Gestalt des Bildes erkannt und abgelegt werden kann.
Orientierung muss nicht immer logisch nachvollziehbar sein. Sie kann auch leiblich, klanglich, atmosphärisch sein. Auch wer den Hauptweg verlässt, geht nicht zwangsläufig verloren. Manchmal sehen wir auf Nebenwegen Dinge, die uns auf dem Hauptweg entgangen wären.
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