Das Ungewisse ertasten – Schüler*innen mit psychischen Beeinträchtigungen im Kolumba Kunstmuseum

[Foto: Kolumba: Bethan Huws / Thomas Rentmeister]

E I N  ALPHABET  DER  GEFÜHLE

Ein Alphabet der Dinge hat keine Ordnung. Gabriel Garcia Marquez schreibt zu Beginn seines Epocheromans ‘Hundert Jahre Einsamkeit’: “Die Welt war so neu, dass vielen Dingen Namen fehlten, und um sie zu erwähnen, musste man mit dem Finger darauf zeigen.” … Wenn ich als Museumsguide mit einer Gruppe durch eine Sammlung gehe, folge ich dieser Methode. Ich halte bei einigen wenigen Bildern oder Objekten, weise darauf und frage zugleich neugierig, freundlich: “Was ist zu sehen? – Helft mir bitte!”

Und dann haben die Besucher*innen das Wort, bringen ihre Wahrnehmungen, Meinungen, Erfahrungen ein – und geben nicht selten Namen.

So beginnt es auch diesmal in der Ausstellung “Wort Schrift Zeichen” des Kolumba Museum in Köln. Ich versuche diese Führung einmal genauer zu beschreiben, um die Beziehung von ausgewählten Kunstwerken, der “besonderen” Besucher*innengruppe und der Verschränkung von beidem durch mich, als dem Guide, deutlicher werden zu lassen. Dabei danke ich den beiden Lehrerinnen Friederike Duncker und Sarah Faber für ihre hilfreichen kritischen Anmerkungen.

Ich begleite eine kleine Gruppe von zehn Jugendlichen mit den zwei betreuenden Lehrerinnen von der Johann-Christoph-Winters-Schule, Klinikschule der Stadt Köln. Dort werden unter anderem Schüler*innen während ihres klinischen Aufenthaltes unterrichtet. Es sind Schüler*innen, die sich oftmals in psychischen Krisen befinden. Beeinträchtigungen zeigen, hinter denen traumatische Erfahrungen, Angstgefühle, Rückzug aus sozialen Bezügen, Vereinsamung, Depressionen und andere Symptome stehen können. Bei diesen besonderen Führungen in vier großen Kölner Museen, die wir “Kunst für die Seele” nennen (und die seit Jahren von der Eckhard Busch Stiftung gefördert werden), kommen Jugendliche auf einer Metaebene mit vielen sie betreffenden Themen in Kontakt. Nicht in einem therapeutischen Umfeld, sondern in einem öffentlichen Museumsraum. Innerhalb einer Gruppe. Moderiert von einem Guide.

DER VERWIRRTE HAUFEN

Auch jetzt, im zweiten Stockwerk des Kolumba, wo wir beginnen, geht es ums Entdecken, um die eigenen Wahrnehmungen: Auf dem spiegelnden glatten Boden ist ein “Wurm” zu sehen (s.o.) Ein Alien. Ein Sitzsack a la Ikea. “Ein undefinierbares Etwas.” “Ein Blob.” Oder eben “Der verwirrte Haufen”. Die Antworten sind zögerlich, kurz, leise, wie nur für sich selbst hingesprochen. Dabei gibt es hier kein Falsch. Immer wieder, bis zum Ende der Führung, ist meine Bitte notwendig, das Gesprochene etwas lauter für alle zu wiederholen. Oder auch meine Bitte um die Wahrnehmungen der anderen. Denn darin liegt die “Qualifizierung” von zuvor ausgewählten Kunstwerken: innerlich teilhabeorientiert zu sein, ein gemeinsames Entdecken zuzulassen, bei der orientierenden Zwiesprache des Guides zwischen Gruppe und Objekt. 
Ich frage nach dem Material. Nach der Farbe. Scheinbare Äußerlichkeiten. Doch Basis ist das, was für alle gleichermaßen zu sehen ist. Vom Künstler, dessen Name nicht fällt, ist der verwirrte Haufen “Ohne Titel” hinaus in die Welt geschickt worden. Können wir ihm einem Namen geben? Und wenn: wäre dieser gewisser oder müssen wir darauf zeigen, um uns darüber zu verständigen, was damit gemeint ist?

“Der Wurm war für mich widerlich!” – Die Namensgebungen, die Auswahlmöglichkeiten, das Sprechen über den Grund einer Auswahl ist nicht auf eine bildungsimmanente Begründung ausgerichtet, sondern auf Zeichen von Selbstbehauptung, von Selbstwirksamkeit, auch in der Öffentlichkeit. Man ist hier eine Stimme, wertig wie andere auch.

C E R T A I N

[Foto: Friederike Duncker]

An der Stelle kommt ein zweites Kunstwerk ins Spiel. Das bodentiefe Fenster im Hintergrund wird von fünf rauchfarbenen Vorhangbahnen bedeckt. Darauf eine Stickerei, deren Buchstaben  C E R T A I N  ergeben… Gewiss. Vielleicht ein Wortspiel mit curtain (Vorhang). Denn die Wort-Künstlerin Bethan Huws ist Waliserin. Aber was wäre für unser Leben und unsere Welt gewiss? Der “verwirrte Haufen” etwa? Der “Blob”? Und wie sollte man sich darüber verständigen?

Mit dieser Prägung gehen wir weiter durch das Stockwerk, Kunstwerke rechts, Kunstwerke links. Einmal treten wir an eines der bodentiefen Kolumba Fenster heran. Es erlaubt den seitlichen Blick auf das Lichtmauerwerk im Erdgeschoss des Museums. Das hochgerühmte Haus des Architekten Peter Zumthor ist auf die Mauerreste gepflanzt worden, die nach dem Krieg von St. Kolumba geblieben waren. Dahinter liegen (von der Gruppe nicht sichtbar) die freigelegten Ausgrabungen, die vor Baubeginn gesichert wurden. Sie zeigen dort einen Ort mit einer fast 2000-jährigen Tradition verschiedener Sakralbauten. Begehbar über einen eleganten Steg.

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eine Stimme geben

Jetzt ist das Ziel der größte Museumsraum im 2. Stockwerk, der unter anderem von einer mechanisierten Skulptur bespielt wird. Die deutsche Künstlerin Rebecca Horn, mittlerweile 80 Jahre alt, ist (auch) für solche Kunstwerke, die präzise Technik mit unaufdringlicher Gesellschaftskritik verbinden, längst international bekannt. –

“Was kann das sein? … Helft mir bitte!”

Wir umrunden das Kunstwerk, beschreiben es gemeinsam. Landen schließlich bei “Ein Blindenstock.” – Mechanisiert soll er sein? Aber da bewegt sich nichts! 
Plötzlich setzt sich der Stab wild zuckend in Bewegung und tappt laut vernehmlich auf dem metallischen Untergrund: Da wird von jemandem, für den schon der nächste Schritt nicht mehr “certain” ist, versucht, sich hörbar in der Welt zu orientieren. Tapp. Tapp. Tapp. Nach vielleicht 30 Sekunden spastisch wirkender und klackender Bewegung kommt die Mechanik zur Ruhe.

Ich frage nach, ob die Bewegung ganz zur Ruhe gekommen ist. “Schaut genau hin!” Ich zeige, visualisiere mit dem ausgestreckten Arm, gebe wieder orientierende Zwiesprache zwischen Objekt und Gruppe, die um die metallische “Spielwiese” verteilt ist, deren Akustik für Menschen, die blind sind und die Orientierung suchen, gewiss keine Spielfläche sein kann…

“Der Stab zittert noch.”… “Er vibriert leicht.” – Aber was bedeutet das? …
Wir sprechen schließlich über zwei Möglichkeiten: Vielleicht zeigt es eine letzte Anspannung, denn Ent-Spannung scheint kaum möglich. – Oder die Situation weist auf eine ständige Bereitschaft: Ein 7 Tage/24 Stunden-Notdienst, der uns genetisch vielleicht vertraut ist seit ‚unseren‘ prähistorischen Zeiten in der Höhle, wo ein Angst/Flucht-Impuls uns helfen soll, dem Säbelzahntiger zu entgehen.

[Foto: Kolumba: Rebecca Horn / Blindenstab]

Die Gruppe lässt sich auf eine Körperübung ein. Eine kleine Reise ins Ungewisse – was sich vielleicht leicht anhören mag, spielerisch, es aber nicht ist. Ich hatte, wie stets vor solchen Führungen, vorher keine individuellen Informationen über einzelne Erkrankungen, weiß aber durch die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen und die gemeinsame Erarbeitung dieses Formats (bis hin zu einem Schulungsangebot für Museen, die ebenfalls qualifizierte Angebote für solche Gruppen machen möchten), mit welchen Hauptsymptomen bei den Museumsführungen zu rechnen ist  Die Auswahl der Objekte, die Kommunikation und der Rahmen dieser Angebote ist wesentlich dadurch geprägt.

[Foto: Friederike Duncker]

Es werden Paare gebildet. Sie sollen die Installation einmal gemeinsam umkreisen. Eine Schüler*in schließt dabei die Augen, während die jeweils andere sie in einer großzügigen Runde um die Installation leitet – nicht etwa durch “an die Hand nehmen”, sondern n u r durch leise Richtungsangaben von der “Seitenlinie”. Einflüsterungen, Schritt für Schritt. Möglichst jedoch ohne an irgendein anderes Kunstwerk anzuecken! – 
Die Augen zu schließen. Sich auf Stimmen zu verlassen. Ihnen zu vertrauen. Auch die Nähe zu anderen, selbst wenn keine Berührung notwendig ist…  Alle lassen sich darauf ein. So wie sich die Teilnehmenden zuvor schon darauf eingelassen hatten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Museum zu fahren und sich an einem öffentlichen Raum zu bewegen und zu sprechen…

Die Paarungen verteilen sich rund um die mechanisierte Skulptur von Rebecca Horn und setzen sich auf ein Zeichen in Bewegung… Und  o b w o h l  es nicht für alle einfach gewesen ist, gelingt es allen. Es gelingt ihnen, sich mit geschlossenen Augen Schritt für Schritt zu bewegen, bis wieder der Ausgangspunkt erreicht ist. Sie müssen “blind” vertrauen.

Hinterher frage ich nach den Gefühlen. Einige deuten an, dass es ihnen nicht leicht gefallen ist. Zwei Mädchen, die Orientierung gegeben haben, erwähnen eine gewisse Verantwortung, die sie dabei spürten.  

 [Foto: Friederike Duncker]

Danach ist die Gruppe erschöpft. Und letztlich unterliegt der Ablauf einer solchen Führung der Situativität. Dennoch werbe ich um eine letzte Station: “Ich habe zum Ausklang etwas Leichtes für euch…  Habt ihr noch Energie ?” – Alle, auch die Lehrerinnen, stimmen zu. Wir gehen in einen angrenzenden Raum. Zu sehen ist dort unter anderem eine Arbeit von Anna Blume: weit mehr als ein Dutzend(!) großformatige Bleistiftzeichnungen, die auf Fotos basieren, Schnappschüsse, mit dem wertigen Label “Kölner Hausfrauen”. Die Fotos sind Anfang der 80er Jahre auf der Venloer Straße (damals ein Arbeiterviertel) und auf Sylt entstanden.

 [Foto: Friederike Duncker: Anna Blume: Kölner Hausfrauen]

Ich gebe wieder eine Aufgabe: flanierend die Porträts entlang zu gehen und eine der Zeichnungen auszusuchen, die vielleicht an eine liebe Oma oder Großmutter erinnert oder zumindest daran, wie man sich eine solche gerne vorstellen würde. Alle tun es. Danach frage ich nach dem jeweiligen Bild, die Gruppe bewegt sich zur jeweiligen Auswahl eines der Jugendlichen, und ich frage individuell nach dem „warum“. Die Begründungen weisen stets auf Emotionales. Eine Körperwendung auf der Zeichnung, die Zuwendung verspricht. Ein fröhliches Lachen. Kräftige Arme, die gut halten und umarmen können. Und diese bunten Blumen überall. Denn auch darum geht es: den eigenen Gefühlen wieder zu vertrauen.
“Die Großmütter haben mir am besten gefallen!” … Aber davon habe ich erst am nächsten Tag gehört.  

[Foto: Kolumba Museum]

Ganz zum Schluss der Führung holt sich die Gruppe noch einen raschen Eindruck, wie das Lichtmauerwerk mit den Ausgrabungen von innen wirkt. Im Nachgang stellt sich heraus, dass dieser scheinbar wilde, auch chaotische “verwirrte Haufen” von Mauerresten ikonisch wohl den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat.




l N F O

Psychische Erkrankungen, emotionale und seelische Beeinträchtigungen haben in den letzten Jahren in allen Altersgruppen stark zugenommen. Das Projekt »Kunst für die Seele – Museum erleben« eröffnet Betroffenen seit 2015 einen neuen Zugang zu den eigenen Wahrnehmungen und zur Welt. Die Angebote finden als teilhabeorientierte Führungen in mehreren Kölner Museen sowohl für Gruppen von Erwachsenen als auch für Schüler*innen verschiedener Altersgruppen statt. Sowohl analog als auch als interaktives digitales Gruppenformat. Kooperationspartner sind dabei neben den Museen der Museumsdienst Köln und die Eckhard Busch Stiftung.

Mehr Informationen dazu: Jochen Schmauck-Langer, (de)mentia+art / 0157 88345881

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