Vanessa Cosima Elektra Vogler ist eine junge Kunsthistorikerin aus der Schweiz. Zuletzt absolvierte sie beim Museumsdienst Köln eine Hospitanz. In deren Rahmen begleitete sie auch eine Führung für Menschen mit Demenz. Im folgenden Bericht schildert Frau Vogler ihre Eindrücke.
Im Rahmen meines museumspädagogischen Praktikums beim Museumsdienst Köln konnte ich das ganze Spektrum der musealen Vermittlung kennen lernen. Ich hospitierte sowohl bei den klassischen Führungen für Erwachsene und Schulklassen, wie auch bei den neueren Formaten, die sich an spezifische Zielgruppen richten, wie z. B. der Seniorentreff, das Akademieprogramm oder die Führung für Eltern mit Baby. Schließlich nahm ich an einer Führung für demenziell veränderte Menschen im Museum Ludwig teil. Geleitet wurde die Führung von Jochen Schmauck-Langer von dementia+art, der diese Führungslinie auch eingerichtet hat. Der Museumsdienst Köln kooperiert mit dementia+art in mittlerweile vier städtischen Museen. Im Folgenden möchte ich über meine Eindrücke von dieser Führung für Menschen mit Demenz berichten.
[Bernard Schultze: Bevor die Dinge ihr Antlitz bekamen, 1994, Öl und Pastellkreide auf Leinwand, 200 x 260 cm, Museum Ludwig, © VG Bild-Kunst Bonn, 2015, Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln]
Bekommen Menschen mit Demenz bei einer Museumsführung überhaupt etwas mit?
Auf die Führung für demenziell veränderte Menschen war ich besonders gespannt, denn ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, wie das genau funktioniert. Was hat es für einen Zweck Informationen zu Kunstwerken zu erhalten, wenn das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr richtig arbeitet?
Als ich am Mittwoch ins Museum Ludwig kam, freute sich Jochen Schmauck-Langer über mein Interesse und erklärte mir den Aufbau der Veranstaltung: Zuerst war eine 90-minütige Führung durch die Ausstellung „Bernard Schultze. Zum 100. Geburtstag“ und durch die Abteilung Klassische Moderne geplant, gefolgt von einer 30-minütigen kreativen Verarbeitung der Eindrücke im Atelier des Museums. Die Spannung stieg, denn ich fragte mich, ob eine 90-minütige Führung nicht viel zu anstrengend ist. Immerhin gehört zum Krankheitsbild von Demenz auch die Abnahme der Konzentrationsfähigkeit.
Die Gruppe bestand aus fünf demenziell veränderten Damen – zwei im Rollstuhl, zwei mit Rollator und eine mit Museumsstühlchen – begleitet von drei Pflegepersonen. Bereits nach den ersten paar Minuten waren meine Vorbehalte größtenteils beseitigt: Jochen Schmauck-Langer hatte die Führung genauestens auf die Bedürfnisse der demenziell veränderten Menschen zugeschnitten! Entscheidend dabei ist, dass die Demenzführung nicht monologisch sondern dialogisch gestaltet ist. Das bedeutet, dass die Teilnehmer behutsam mit Fragen zu den Kunstwerken ‚konfrontiert‘ und zugleich ermuntert werden, ihre Eindrücke und Gedanken mitzuteilen.
Die sinnliche, emotionale und soziale Komponente der Kunstrezeption
Jochen Schmauck-Langer hat mit einer Bildbetrachtung begonnen, ohne vorher über die Vita des Künstlers und die kunsthistorische Verortung dessen Œuvres zu sprechen. Die Teilnehmer wurden animiert, zu beschreiben, was sie in den abstrakten Farbstürmen Schultzes sehen und wie diese auf sie wirken. Schnell wurde mir klar: Hier geht es nicht darum, kunsthistorische Zusammenhänge und kulturelle Entwicklungen zu begreifen, sondern um die sinnliche, emotionale und soziale Komponente der Kunstrezeption. Die Sinne der demenziell veränderten Menschen wurden zusätzlich durch das Abspielen von Ausschnitten aus Robert Schumanns Rheinischer Sinfonie angesprochen, welche gut zu den Schultze-Bildern passten. Folglich besteht die Intention der Demenzführung darin, die Teilnehmer auf der sinnlichen und emotionalen Ebne zu erreichen, denn die Sinne und Gefühle sind nicht direkt von der demenziellen Veränderung betroffen, genauso wenig wie das Bedürfnis nach sozialer Interaktion.
Eine museumspädagogische Herausforderung
Jeder gute Redner geht auf sein Publikum ein. Doch bei einer Demenzführung ist die Flexibilität und das Einfühlungsvermögen des Museumspädagogen oder –geragogen noch mehr gefragt, denn im Vordergrund stehen die persönlichen Bedürfnisse und Vorlieben der Teilnehmer. Das ist eine ganz andere Schwerpunktsetzung, wie z. B. bei einer öffentlichen Führung über die Entwicklung der Malerei von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion. Da müssen sich die Leute auch einen Mondrian ansehen, wenn er ihnen nicht gefällt und sie nichts Persönliches damit verbinden können. Bei der Demenzführung ist jedoch gerade der Bezug zur eigenen Person ein wichtiger Aspekt, denn die Teilnehmer sollen im Rahmen der Kunstbetrachtung auch die Gelegenheit haben, sich zu erinnern und die Schätze ihres Langzeitgedächtnisses hervorzuholen. Wenn der Museumsgeragoge also feststellt, dass eines der ausgesuchten Kunstwerke bei den Teilnehmern auf geringes Interesse stößt, dann wechselt er etwas schneller zum nächsten Objekt. Ist hingegen eines besonders beliebt, wird ein anderes ausgelassen oder kürzer betrachtet.
Zudem muss der Führer noch mehr darauf achten, langsam, laut und deutlich zu sprechen und sich immer wieder vergewissern, dass seine Zuhörer ihm folgen können. Denn das Ziel ist die aktive Teilhabe an den Kunstwerken. Die demenziell veränderten Menschen sollen nicht von einem Geplapper über Kunst berieselt werden und abstrakte Hintergrundinformationen erhalten, die sie nachher sowieso wieder vergessen. Stattdessen muss der Führer den Teilnehmenden mit seinen Fragen die Vielschichtigkeit eines Werkes aufzeigen und Identifikationsmöglichkeiten herausarbeiten. Die Aufgabe besteht darin, die Menschen mit Demenz aktiv in die Führung einzubinden und ihnen das Kunstwerk sinnlich näher zu bringen. Deshalb nimmt die ‚Bestandsaufnahme‘ viel Raum ein: Man versucht das Dargestellte gemeinsam im Dialog fassbar zu machen.
„Und du ziehst die Schürze an!“
Welch starke Empfindungen und Erinnerungen Kunstwerke bei Menschen mit Demenz evozieren können, erfuhr ich bei der Betrachtung der „Jungen Spanierin“ von George Grosz aus dem Jahr 1927. Kaum bei dem Gemälde angekommen, begann eine der Damen sofort zu erzählen: „Das könnte ich sein! Ich sah als junges Mädchen ganz genau so aus! Und so einen Schmollmund machte ich immer, wenn ich meine Milch nicht kriegte! Ich hatte auch genau so pechschwarze Haare und so eine Schürze! Aber die Schürze wollte ich nicht anziehen, weil die anderen Kinder keine tragen mussten. Die Mutter hat aber immer gesagt: ‚Und du ziehst die Schürze an!‘“
Die Schürze der jungen Spanierin bot auch den anderen Damen großes Identifikationspotenzial. So berichtete eine andere Teilnehmerin, sie hätte eine viel schönere Schürze gehabt und diese gern getragen. Gleich darauf wurde der Gesichtsausdruck der jungen Spanierin zum Thema, denn jemand warf ein, dass das Mädchen doch gar nicht schmolle, sondern traurig sei. „Nein, sie ist enttäuscht!“, bemerkte jemand anderes. Jochen Schmauck-Langer hakte nach und wollte wissen, warum das Mädchen diesen Gesichtsausdruck habe. „Na, weil sie immer allein den Abwasch machen muss und ihr Bruder nie!“ lautete ein Vorschlag, welcher bei den Damen auf allgemeine Zustimmung stieß. Ich war erstaunt über eine solch große aktive Beteiligung. Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion unter den Damen! Vor allem die Begeisterung und der Witz, mit denen die Gedanken und Erinnerungen zum Besten gebracht wurden, beindruckten mich.
Weder Therapie noch Wissenschaft, sondern Kunstgenuss
Am Ende der Führung für Menschen mit Demenz steht nicht die Erlangung von wissenschaftlichen Interpretationen und kunsthistorischen Erkenntnissen. Ebenfalls darf das Erleben von Kunst nicht als ein Instrument betrachtet werden, um Demenz zu therapieren: Der Anspruch ist kein therapeutischer. Von der Konzentrationsschwäche demenziell veränderter Menschen bemerkte ich während der Führung nicht das Geringste: Durch die aktive Mitgestaltung der Führung und die Anregung von Gefühlen und Erinnerungen fällt es den Teilnehmern wohl leichter, aufmerksam zu bleiben.
Auch die eigene Erfahrung mit Pinsel und Farbe im Atelier förderten die lustvolle Auseinandersetzung mit den Kunstwerken. Berührungsängste wurden abgebaut und die Teilnehmer konnten die haptischen Qualitäten der Malutensilien erleben. Am Ende der Veranstaltung sollen die demenziell veränderten Menschen auf eine schöne Zeit im Museum zurück blicken können, in der sie Kunst so genießen konnten, wie sie es vermögen – mit den Sinnen, den Emotionen und den Erinnerungen. Meiner Meinung nach ist dies ein durchaus legitimer Anspruch, denn auch wenn Kunsthistoriker es gelegentlich aus den Augen verlieren, Kunst ist mehr als nur der Gegenstand einer Wissenschaft und der Museumsbesuch stellt auch ein emotionales und soziales Erlebnis dar.