Wiederholungstäter mit Notenschlüsseln in den Augen – ein etwas anderer Konzertbericht

Kennen Sie den Film ‚Die große Chance’…? Sandra Bullock spielt darin eine kultivierte Südstaatenlady: eine erfolgreiche Innenarchitektin, Frau eines wohlhabenden Geschäftsmanns und zweifache Mutter. Sie schätzt das gute Leben, ist selbstbewusst, durchsetzungsfreudig – und hat ein waches Empfinden für soziale Gerechtigkeit. Als sie einen jugendlichen, obdachlosen Schwarzen auf der Straße sieht, nimmt sie ihn mit nach Hause. Der hünenhafte Junge wird bald ein selbstverständliches Mitglied der Familie und letztlich einer der berühmtesten Footballstars der USA. – Eine Frau, die dafür kämpft, dass Dinge möglich werden, die eigentlich unmöglich scheinen. Gabrielle Sauer, die Verfasserin des folgenden – sehr unterhaltsamen und zugleich berührenden – Berichts, erinnert mich an diese Frau: In diesem Fall in einer Geschichte von nachhaltiger sozialer und kultureller Teilhabe. (JSL)

© Fotos: G. Sauer

22 WDR-Klassikkonzerte in 33 Monaten – Eine musikalische Erfolgsstory in einer Senioreneinrichtung des Clarenbachwerks Köln

„Nichts ruft die Erinnerung an die Vergangenheit so lebhaft wach wie die Musik.“ (Madame de Staël) und: „Es schwinden jedes Kummers Falten, solang des Liedes Zauber walten.“ (Friedrich von Schiller) – Gedanken formuliert vor langer Zeit, umschreiben sie genau die Bedeutung von Musik für demenzbetroffene Senioren in unserer Pflege-Einrichtung.

Verspricht das Freizeitprogramm den Konzertbesuch im Funkhaus Wallrafplatz oder die ‚Happy Hour‘ in der Philharmonie, möchten jedes Mal gerne viele Bewohner dabei sein. Die von WDR und (de)mentia+art angebotenen Aufführungen bedeuten mehr als nur den Musikgenuss: Es sind die ‚goldenen‘ Erinnerungen an frühere, eigenständige Aktivitäten und es ist die spürbare Wertschätzung als Individuum. Vor allem aber ist es die Teilhabe am gesellschaftlich-kulturellen Leben – ermöglicht durch Engagement mit gelebter Verantwortung um Inklusion und durch großzügiges Sponsoring des WDR.

WIEDERHOLUNGSTÄTER

Zugegeben: Unsere ‚Wiederholungstäter‘ entsprechen eigentlich nicht der Vorstellung eines typischen Konzertgängers. Es sind Menschen ab Anfang 80 bis Mitte 90; dementielle und körperliche Beeinträchtigungen gehören zum Alltag. Kaum jemand, der nicht auf Hilfe oder einen Rollator bzw. Rollstuhl angewiesen ist, selten einer ohne Brille oder Hörgerät …

Das verbindende Element ist die gemeinsame Liebe zur Musik: Dieser Schlüssel zum Herzen eines jeden Menschen ist für Demenzerkrankte gleichsam der Schlüssel zu einer glücklichen, ruhevollen Zeit, in der geistige und altersbedingte Handicaps schlichtweg eine Weile außen vor bleiben.

Wenn das Clarenbachwerk Köln anlässlich der 7. Kölner Demenzwochen 2018 dank Jochen Schmauck-Langer von (de)mentia+art mit den beiden Aufführungen in WDR und Philharmonie nun ein stolzes, kölsches „2 x 11“-Teilnahme-Jubiläum feiert, steht bereits fest: Es wird sein wie immer!

„Wie immer“ bedeutet zunächst: Das einzige, was schnell sein wird, ist der Puls der Sozialarbeiterin Vian Dizayee und meiner als ehrenamtlicher Begleiterin. Herr M. wird wieder unsere „Spontan-Aktion“ bemäkeln: Seiner Ansicht nach hat ihn niemand über den Ausflug informiert und die Einladung samt Erinnerung haben wir ihm doch gerade erst heimlich auf den Tisch gelegt!

Frau E. hingegen wird hibbelig sein wie ein junges Mädchen und seit Tagen fragen, ob „der Mann“ denn auch wieder da sei: Klar, Jochen Schmauck-Langer wird selbstverständlich anwesend sein! Dass ihm die Philharmonie und der WDR „gehört“ (bzw. nicht) – die Diskussion kann ich niemals gewinnen … Bei Frau A. werden wir schlau sein und ihr (scheinbar) nicht beim Einsteigen helfen: Sie kommt ihrer Meinung nach locker trotz ihrer Mitte 90 in jedes Auto!

ORIGAMI MIT ROLLSTÜHLEN UND ROLLATOREN

Meine Bewunderung wird meiner Chefin Frau Dizayee gelten, wenn sie wahre Origamikünste beim Zusammenfalten und Verstauen von Rollstühlen plus Rollatoren beweist. Auf der Autofahrt von Braunsfeld in die Innenstadt fragt sicher irgendwer, ob wir denn noch in Köln (wahlweise: Deutschland) sind – oder wo wir denn jetzt eigentlich überhaupt hinfahren. Vor Ort gilt es für uns Begleiterinnen flink zu sein: Unsere Damen und Herren steuern gerne alleine zielgerichtet ihre vermeintlichen Plätze an – und „Müssen“ müssen nun sowieso genau diejenigen, die eben zuhause noch nicht mussten.

Aber dann wird es auch sein „wie immer“: Feingemacht mit glänzenden Augen sitzen unsere Goldigen da und sind wie ausgewechselt! Der kundige Blick gleitet wissend über Publikum und Orchester-Musiker; mit dem Programm in der Hand grüßen sie lächelnd nach rechts und links andere Besucher – man kennt sich halt in der Kulturszene. Wie gehabt werden wir Herrn M. rechtzeitig vom Einsammeln aller auf den Stühlen ausgelegten Mitsinglieder ablenken und kopfstehende Texte in den Händen unserer Musikliebhaber unauffällig umdrehen.

ENTSPANNTE AUFMERKSAMKEIT

Erklingen die ersten Konzerttöne, herrscht wohlig-entspannte Aufmerksamkeit: Bewohner, Sozialarbeiterin und Ehrenamtlerin strahlen vor Glück – wie immer! – Die erste Klassik-Veranstaltung im Sendesaal des WDR Köln besuchte ich im Dezember 2015 mit zwei demenzbetroffenen Damen und einem Herrn. Ein wunderbares Konzert mit Werken von Scarlatti und Händel, bei dem zum Schluss gemeinsam mit den Künstlern des WDR Sinfonieorchesters gesungen und musiziert wurde.

Es war berührend, wie sich diese eigentlich zurückhaltenden Menschen plötzlich selbstsicher im repräsentativen Funkhaus am Wallrafplatz bewegten. Sie steuerten souverän die Garderobe an, scherzten mit dem Empfangschef, nahmen wie selbstverständlich in den großen Ledersesseln im Foyer Platz.

Die festliche und doch lockere Atmosphäre, der vollbesetzte Sendesaal, die zugewandten Mitarbeiter von WDR und (de)mentia+art, das Kammerkonzert, bei dem zum Schluss altbekannte Weihnachtslieder gesungen wurden: Diese eine glückliche Stunde stimmte die drei Senioren heiter und zufrieden und löste eine lang anhaltende Freude aus.

„Schon ein ganz kleines Lied kann viel Dunkel erhellen“, heißt es bei Franz von Assisi: Ermutigt durch diese positiven Erfahrungen ist es für die Soziale Betreuung in den Braunsfelder Häusern des Clarenbachwerk Köln seitdem schon liebgewonnene Pflicht, ihren demenzbetroffenen Pflegebedürftigen diese kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Als Ehrenamtlerin freue ich mich jedenfalls darauf, mit unseren Senioren noch viele beglückende Momente zu erleben: Bestenfalls „wie immer“ durch die Musik – vielleicht spontan in der Philharmonie durch unüberhörbares Mitsingen, gestenreiches Mitdirigieren oder plötzliche Einbeziehung in eine La-Ola-Welle unserer älteren Herrschaften …

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